Seelenblick – eine Kurzgeschichte (Part 1)

„Die Augen sind die Fenster der Seele“ – Hildegard von Bingen

Riddle, Idaho in den USA. Die Nacht ist längst über Idaho eingebrochen und hüllt das verlassene Dörfchen Riddle in eine tiefe Dunkelheit. Samtene Schwärze umgibt die wenigen Häuser der Nachbarschaft und verschluckt sie nahezu. Die einzige Lichtquelle bildet der Mond, welcher sein schwaches Scheinen durch eine dicke Wolkendecke in Richtung der Wohnlandschaft schickt. Einsame Häuser, vielleicht zehn, zwanzig an der Zahl, sind inmitten einer dürren Wüstengegend zu erkennen. Jedes einzelne weist erhebliche Mängel auf- zerbrochene Fensterscheiben, abgebröckelten Putz oder fehlende Dachziegel. Asphaltierte Straßen gibt es keine, stattdessen führt ein Weg aus festgetretenem Sand von Haus zu Haus. Der bläuliche Mondschein erzeugt einen silbernen Glanz auf den Hauswänden, der in Angesicht der ärmlichen Umgebung eine surreale Wirkung hat. Etwas trostloses liegt über dieser heruntergekommenen Gegend. Eine schläfrige Stille herrscht über den wenigen Häusern des kleinen Dorfes und erweckt den Eindruck, als würde alles ruhen. Doch dieser Schein trügt. Plötzlich gibt es eine Bewegung im fahlen Mondlicht und die Silhouette einer Person zeichnet sich schwach von der Dunkelheit ab. Ihr langgezogener Schatten huscht an einer der Hauswände entlang. Mit schnellen Schritten eilt die Person den Hauptpfad hinunter, unbemerkt verfolgt von einer zweiten Gestalt. Kurz vor einer Abzweigung Richtung Norden wird sie eingeholt. Die hintere Gestalt holt zum Schlag aus und lässt die erste Person zu Boden gehen. Diese knallt mit einem dumpfen Aufprall auf die Erde, ein erschrockenes Keuchen entfährt ihr. Ein paar hastige Bewegungen, und der Unbekannte verschwindet zwischen den Häusern. Die Gestalt am Boden rührt sich nicht mehr.

Zwei Monate später. Am östlichen Horizont geht die Sonne in einem Glühen von Rot auf und bemalt den umliegenden Himmel mit bunten Streifen. Ein Spiel aus verschiedenen Nuancen von rosa und orange bietet sich auf dem grauen Nachthimmel. Die Strahlen der Sonne durchbrechen die Morgendämmerung über Idaho und tauchen die schäbigen Häuser Riddles in ein goldenes Licht. Ein zersprungenes Fenster glimmt in der frühen Morgensonne und wirft seine Reflexionen auf den staubigen Sandboden. Die karge Wüstenlandschaft liegt träge dar- vertrocknet, still. Kein Wind weht und die warme Luft legt sich wie eine Decke über das Dorf. Riddles gesamte Erscheinung wirkt gespenstisch, ja beinahe ausgestorben. Es gibt keinerlei Vegetation, die diesem Eindruck entgegenwirken könnte. Einzig ein kleiner Strauß Veilchen am Rande des Hauptweges verleiht dem Ort ein Hauch von Leben. Inmitten der tristen Landschaft haben die zart-lilanen Blumen etwas utopisches an sich. Ihre Blüten strecken sich in Richtung der aufgehenden Sonne und glitzern in den Strahlen des hellen Lichtes.

Ich sitze mit kerzengeraden Rücken auf einem unbequemen Holzstuhl innerhalb eines der Häuser, hier in Riddle. Die Lehne bohrt sich schmerzhaft in meinen mittleren Rücken, und dennoch verharre ich in dieser Position. Durch ein fast taubes Fenster zu meiner linken Seite kämpfen sich einige schwache Lichtstrahlen in den Gerichtssaal, in dem ich mich befinde. Erleuchtet durch die Sonne tanzen ein paar Staubkörner in der Luft und bahnen sich leichtfüßig einen Weg nach unten. Der Mord vor zwei Monaten hat die Bewohner von Riddle bewegt. Wenn es vorher Misstrauen und Verstimmungen untereinander gab, so ist dies kein Vergleich zu heute. Die zahlreichen Befragungen der Polizei haben ihr übriges dazu beigetragen. Trotz dieser geladenen Stimmung herrscht Einigkeit in einem Punkt. Der Mörder muss festgenommen werden, und zwar schnell. Das Wissen, eine Tatverdächtige gefunden zu haben, wurde deshalb mit viel Erleichterung aufgenommen und innerhalb kürzester Zeit verbreitet. Nun liegt es an mir, die Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Ein Blick in ihre Augen hat gereicht, um zu verstehen, dass sie mit dem Vorfall nichts zu tun hat. Es geschah an dem langen Nachmittag voller Vorbereitungen auf den Prozess.

Ich sehe Zahide in ihre tiefbraunen Augen, versinke nahezu in ihnen, haltsuchend. Plötzlich verschwimmt die Umgebung um mich herum und verwandelt sich in einen Strudel aus Farben. Ein Gefühl, Fallen oder Fliegen, ein wenig von beidem, ergreift mich. Auf einmal stehe ich inmitten eines Paradieses, so scheint es. Ein Meer aus blühenden Wildblumen umgibt meine Beine. Über mir schwirren Schwärme von Bienen, kleine Vögel ziehen ihre Kreise. Es fühlt sich an, als würde ich träumen, losgelöst von sämtlicher Realität. In meinem Kopf hallt Gelächter, fröhliche Stimmen, Satzfetzen vermischen sich miteinander. Und dann sehe ich Menschen, mehr Geist als lebendig, um mich herumschweben. Als wären sie aus Rauch, verwandeln sich ihre Gestalten in verschiedene Szenen, lösen sich wieder auf. Zahides Familie. Sie alle lachen mir zu, vermitteln den Eindruck von grenzenloser Liebe. Ich spüre das Glück und die Lebensfreude, die in dieser Seele innewohnen. Nur mit Mühe komme ich wieder zu mir und wende den Blick von Zahides Augen. Diese Frau ist keine Mörderin.

Ihre Unschuld zu beweisen, wird kein leichtes Stück. Die vermeintlich schwere Beweislage ist eine Sache, ob der Richter den Druck von Riddles Bewohnern standhält, eine ganz andere. Liebend gerne würden diese ein Urteil sehen. Schließlich wäre eine gefasste Mörderin endlich etwas, was Ansehen in ihr schäbiges Dorf bringen würde. Doch wie erkläre ich, dass ich mir in Zahides Unschuld so sicher bin? Da reißt mich eine Stimme aus meinem Tagtraum und holt mich je in die Realität zurück. Mein Blick löst sich von dem Spiel aus Lichtflecken und Schatten, die auf dem Boden immer neue Muster erzeugen. Mir gegenüber sitzt ein älterer Herr, der Verteidiger des Mordopfers. Sein feiner Anzug mit den silber-glänzenden Knöpfen und dem schneeweißen Hemd will nicht so Recht in diese Umgebung passen. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, denn es liegt genau im Schatten. Zu meiner Rechten befindet sich die Angeklagte, Zahide. Ihre Nervosität lässt sich beinahe körperlich spüren. Immer wieder huschen ihre Augen durch den spärlich eingerichteten Saal. An der Stirnseite des Raumes, auf einer kleinen Erhöhung, thront der Richter. In dem schummrigen Licht lässt sich sein schwarzer Umhang kaum von der Umgebung unterscheiden. Just in dieser Sekunde erhebt er sich mit einer eleganten Bewegung. „Meine Damen, meine Herren“, sein durchdringender Blick ruht nacheinander auf mir, Zahide und dem Verteidiger. „Hiermit eröffne ich den heutigen Prozess. Die Tatverdächtige, Mrs. Zahide Callum, geboren am elften November 1987 in Grasmere, Wohnhaft in Riddle, wird des grausamen Raubüberfalls und Mordes an Mrs. Dabria Johnson beschuldigt.“ Er holt tief Luft und fährt dann mit zittriger Stimme fort. „Möge dieser Prozess und ein mögliches Urteil Gerechtigkeit nach Riddle bringen. Möge dieser Prozess den unfairen Mord an Mrs. Johnson ein Stück weit gerechter machen.“ Für einige Sekunden herrscht Totenstille, dann lässt der Richter sich mit einem Rascheln seines Umhangs zurück auf den Stuhl sinken.