Leben in zwei Welten
Endlich Zuhause
Ich steige aus und nehme einen tiefen Atemzug durch die Nase. Aus der kleinen Bäckerei am oberen Ende der Gasse weht der wohlige Geruch frisch gebackener Brote und Sesamringe , ein befreiendes Gefühl. Die Straße, wenn man sie überhaupt noch so bezeichnen kann, gleicht einem Flickenteppich. Ein Alptraum für teure Felgen, was hier allerdings kein Problem darstellen sollte. Im Kosovo ist der Himmel vor lauter Kabeln, die von einem Strommast zum anderen führen, manchmal nur schwer zu erkennen. Beim Ausatmen realisiere ich erst, dass das Warten ein Ende und die Reise sich gelohnt hat, denn ich bin zuhause. Endlich zuhause. Im nächsten Moment packt mich jedoch trotzdem das Heimweh. Eigentlich total komisch, weil ich doch gerade erst angekommen bin. Aber es ist auf einmal nicht mehr dieser Ort, dieses Zuhause, das ich vermisse. Es ist mein anderes Zuhause. Den Kopf schalte ich aus, denn gerade ist nicht der richtige Moment, um Heimweh zu haben. Außerdem war ich seit Monaten nicht mehr hier, weshalb es viel nachzuholen gibt. Von der Garage aus sind es gute 15 Meter bis zur Haustür, aber Oma hasst es, wenn man über ihren geliebten Rasen oder gar an den Blumen entlang läuft, also folge ich meinen Eltern bei dem Umweg um die Wiese herum. Mein Vater drückt vorsichtig die bronzefarbene Türklinke runter und schleicht durch den Flur bis in die Küche. Die Haustür könnte eine Erneuerung vertragen, denn die Klinke hängt wie ein halbtrockenes Laubblatt schon leicht hinunter. Sofort dreht sich meine Oma um, die gerade Mittagessen für uns zubereitet, und streckt ihrem Sohn die Arme entgegen. In den 18 Jahren meiner Lebenszeit konnte ich sie nie in gewöhnlich schlichter Alltagskleidung oder mit unordentlicher Frisur erwischen. Der sommerlich grüne Rock, den sie perfekt mit einer schicken Bluse kombiniert hat, ist der reinste Blickfang. Die Haare trug sie noch nie lang, aber immer fein nach hinten gekämmt und das Grau tuschiert sie stets mit dunkelroter, fast schon schwarzer Farbe. Eigentlich hat sie sich immer bestens gehalten, dieses Jahr sieht sie aber doch etwas älter aus. Mit Tränen in den Augen seufzt sie: ,,Sa mir qe jeni ardh! A u lodht?.“ – Diese Worte erwärmen jedes Jahr erneut mein Herz, weil sie von ihr kommen: ,,Wie schön, dass ihr endlich wieder hier seid! Seid ihr erschöpft?“
Während der ersten Tage passiert es immer mal wieder. Mein Puls gleicht plötzlich einem amateurhaften Trommelwirbel und das Atmen erfordert Konzentration. Den anderen fällt das alles hier total leicht, weil sie es nicht anders kennen, doch ich bin nicht von hier. Ich muss mich anpassen, um nicht fehl am Platz zu sein. Ich darf nicht auffallen, keiner soll merken, dass ich ,,e jashtit“ also ,,von Außen“ bin. So laufen die ersten Tage jedes Mal ab, aber das legt sich spätestens am vierten Tag wieder. Nach und nach treffe ich auf weitere Verwandte und lächle verlegen, wenn sie staunen: ,,Ohh, du bist so groß geworden. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, daran, dich als kleines Baby im Arm gehalten zu haben und plötzlich stehst du als erwachsene Frau vor mir. Hast du denn schon einen hübschen Mann gefunden?“ Mein Gesicht wird wärmer, hoffentlich sehen sie die Röte nicht. Als Kind habe ich nie verstanden, warum man mich ständig fragte, ob es denn hier oder Zuhause besser sei oder ob ich schon zurück in mein schöneres Zuhause wolle. Mit der Zeit wurde mir allerdings klar, dass das lediglich die albanische Art ist, uns aufzuziehen. Mit uns meine ich die Ausländer, größtenteils in Deutschland und der Schweiz, aber auch teilweise in Norwegen, Schweden oder Österreich lebend.
Typisch Ausländer
Hier Ausländer zu sein ist völlig anders als in Deutschland einer zu sein, Kritiker finden sich allerdings immer. Es gehört dazu, von nahezu jedem Fremden, der einem über den Weg läuft, geneckt zu werden. Der direkte Sarkasmus vieler könnte Grund zur Annahme sein, die Kosovo-Albaner seien ausländerfeindlich. Sobald man aber verstanden hat, dass die vielen Bemerkungen und Kommentare der Einheimischen schlichtweg zu ihrem Humor gehören und es hier normal ist, weniger distanziert mit Fremden umzugehen, hört man dort kaum noch hin. Die Leute sind nämlich überwiegend dankbar für unseren Besuch im Sommer, weil der Tourismus ihnen in die Karten spielt. Die Familien bekommen Geschenke und Geld für offene Stromrechnungen oder Renovierung, die Restaurants sind rund um die Uhr voll und Geschäfte machen so große Umsätze wie in sonst keiner Saison.
Die Tage vergehen wie im Flug und ich vergesse zeitweise total, dass in meinem Leben auch noch eine andere Welt existiert. Ähnlich ist es allerdings auch in Deutschland. Teilweise vergehen Tage oder Wochen, in denen von dem Verlangen, wieder herzukommen, keine Spur zu erkennen ist. Es ist erstaunlich, wie schnell die 6 Wochen langen Sommerferien vergehen können. Mir scheint es, als hätte ich gerade erst die Augen geschlossen und mit diesem einen Wimpernschlag ist der 2. September, der erste Schultag, plötzlich nur noch eine Woche entfernt.
Während der letzten Tage hier ist meistens noch eine Menge zu tun und die To-do-Liste wirkt unendlich. Um noch meine letzten Einkäufe zu tätigen, steige ich ins Taxi, das mich ins Zentrum fährt. “Sehr gerne. Es freut mich, dich zu sehen. Woher kommst du denn?“ antwortet der Taxifahrer, nachdem ich ihm das Ziel dieser Fahrt verraten habe. Ein Fremder, der sich freut, mich zu sehen – Zuhause unangenehm und vielleicht sogar etwas aufdringlich, hier vollkommen normal. Ich erzähle ihm, dass ich aus Deutschland komme, woraufhin er zustimmend nickt: „Dachte ich mir schon.“ Er überlegt kurz. “Mein Bruder lebt auch in Deutschland“, fährt er fort und erzählt mir einiges über sein Privatleben und seine familiären Verhältnisse. Dafür, dass wir laut Taxameter erst zwei Minuten und siebenunddreißig Sekunden gefahren sind, weiß ich schon reichlich über den 23- oder vielleicht 24-jährigen Mann. Meine Fingerspitzen fangen an, zu kribbeln und mein rechtes Bein zappelt vor Neugier, deshalb hake ich nach: „Woher wusstest du denn, dass ich aus Deutschland komme?“ Er lacht und zeigt auf meine Air Force 1 in weiß: „Einerseits tragt ihr momentan alle die gleichen Schuhe und andererseits parfümiert ihr Ausländer euch viel stärker ein als wir. Ach, und die Jungs tragen zu jedem Anlass diese merkwürdigen Bauchtaschen.“ Mir wäre das alles niemals aufgefallen, weil ich mit dem Kleidungsstil deutscher Jugendlicher täglich in Kontakt bin und mich diesem schließlich auch selbst anpasse. Für die Einheimischen sind wir allerdings die anderen, die Ausländer, die ein- bis zweimal jährlich etwas mehr Leben in die Städte bringen und sofort wieder verschwinden.
Jedes Jahr freue ich mich auf den Urlaub hier. Liebevolle Menschen, ein herzliches Miteinander, schicke Restaurants und natürlich meine Familie. Ich hätte sie gerne näher bei mir, um meine Verwandten häufiger zu sehen, aber das geht leider nicht. Immerhin hat es seine Gründe, dass meine Eltern sich für ein Leben in Deutschland entschieden haben. Mein Urlaub hier gestaltet sich nämlich nur so schön, weil ich nicht hier bin, um zu bleiben. Von Hungerlöhnen über Stromausfälle bis hin zu einem mangelhaften Gesundheitswesen müssen die Bewohner Kosovos alles ertragen. 365 Tage im Jahr und größtenteils ohne jegliche Möglichkeit auf etwas, was einem Urlaub auch nur nahe kommt. Dementsprechend freuen sie sich genau so auf uns, wie wir uns auf sie.
Zeit für die Heimkehr
Wohl oder übel ist der Tag der Abreise gekommen. Ein letztes Mal schaue ich in jedem Zimmer des Hauses, ob wir auch wirklich nichts vergessen haben. Schließlich schlendere ich noch einmal die Treppen hinunter in den Hof. Der Anblick der Stufen versetzt mich in Melancholie und ich gehe langsamer, weil ich weiß, dass unten ein Abschied auf mich wartet. Alle haben sich bereits versammelt, groß und klein mit trauriger Miene. Mein Vater macht den ersten Schritt. ,,Gibst du mir deinen Segen, nach Hause zu fahren, Mutter?“ spricht er und nimmt meine Großmutter in den Arm. Die ersten Tränen Rollen und wie in all den Jahre zuvor sagt meine Mutter auch dieses Mal: ,,Sei nicht traurig, wir kommen doch schon bald wieder.“ Meine Tanten richten Grüße an die Verwandten in Deutschland aus und die letzten Umarmungen enden auch irgendwann.
Alle sind angeschnallt, der Kofferraum voll, die Türen gehen zu und aus dem Fenster winkt meine Familie. Während der nächsten dreißig Minuten herrscht eine bedrückende Stille im Auto, weil keiner die richtigen Worte für einen solchen Moment findet. Nach knapp 15 Minuten verschwindet das blaue Ortsausgangsschild von Mitrovica hinter uns und ich merke, dass es jetzt wieder nachhause geht.
Endlich wieder Zuhause
So traurig ich mich allerdings fühle, atme ich dennoch auf und falle tief in die Rückenlehne des Autositzes. Ein enormer Druck verlässt meine Brust, denn ich vermisse mein übliches Umfeld, meine Routine und die gewohnte Ordnung Deutschlands. Nach 1.330 Kilometern und fünf Ländern überkommt mich wieder dieses Gefühl. Ich steige aus und nehme einen tiefen Atemzug durch die Nase. Es riecht wohlig und vertraut, ein befreiendes Gefühl. Beim Ausatmen höre ich in der Ferne den sächsischen Dialekt eines LKW-Fahrers und realisiere, dass wir in Dresden sind. Fast zu Hause. An einer Raststätte begegnet mir ein Pärchen, das auch eine lange Autofahrt hinter sich zu haben scheint. Wir unterhalten uns kurz und knapp über das Wetter und ich frage, wo es für die beiden hingehe. ,,Hamburg und wo kommen Sie her?“ reagiert das Mädchen. ,,Aus Hildesheim, das liegt nur wenige Kilometer süd-östlich von Hannover“, erwidere ich. Beide schauen sich kurz an, woraufhin der Junge nachhakt: „Ne, sie meinte, wo Sie ursprünglich herkommen. Was ist Ihr Hintergrund?“ Diese Frage musste ich schon häufiger beantworten, als mir lieb ist. ‚Die beiden können nichts dafür, sie sind nur neugierig‘, denke ich und antworte ihnen neutral. Viel länger läuft das Gespräch nicht, die Fahrt geht weiter. Das Gespräch rief mir wieder ins Gedächtnis, dass ich hier ebenso Ausländerin bin wie dort. Dabei lebe ich hier, bin hier aufgewachsen, gehe hier zur Schule und habe hier meine Freunde und Bekannten. Hier bin ich zuhause. Die ersten Tage in Hildesheim gestalten sich wieder ein wenig merkwürdig. Ich fühle mich in der Öffentlichkeit unwohl und anders als die anderen, aber auch das legt sich in ein paar Tagen wieder. Wie in sonst auch jeder anderen Situation, gewöhnt man sich schnell an die Umstellung. Jedes Jahr herrscht in mir zu dieser Zeit eine unangenehme Unruhe. Soll das für immer so weiter gehen? Hier nicht deutsch genug, um dazu zu gehören und dort bin ich zu deutsch. Hier sagt man mir:,, Du sprichst aber echt gutes Deutsch, dafür dass du… na, du weißt schon. Wie lange lebst du denn schon hier?“ und dort heißt es: ,,Manchmal hört man kaum raus, dass du keine richtige Albanerin bist, aber dein Deutsch ist bestimmt besser.“
Um das Leben in zwei Welten allerdings trotz all der Schwierigkeiten genießen und ohne größere Einschränkungen führen zu können, darf man sich nicht von Zweifeln oder von der Angst, ein Außenseiter zu sein, entmutigen lassen. Meine Freunde habe ich nun seit sechs Wochen nicht gesehen, also freue ich mich lieber auf das Wiedersehen, als mir den Kopf über die Unterschiede zwischen meine beiden Heimaten zu zerbrechen. Schließlich prägen sie mich beide auf verschiedene Weisen und lassen mein Herz bei jeder Ankunft erneut aufgehen.
Text und Bild: Aurora O.