Der Balanceakt zwischen zwei Welten

Eine Tüte Bittersüßes oder Saures  

Es war der Tag meiner Einschulung. In der Schule angekommen, ging ich stolz mit der riesengroßen Schultüte in meinen Händen zu dem Treffpunkt der 1c. Das war der Beginn meiner Grundschulzeit. Eine Zeit, die durch viele wunderbare Freundschaften sowie durch die ersten bittersüßen Erfahrungen  geprägt war. Diese „bittersüßen“ Erfahrungen waren alle letztlich auf eines zurückzuführen – und zwar auf meine Herkunft. 

In der Grundschule habe ich mich sehr lange nie fragen müssen, ob es einen Unterschied zwischen mir und meinen Mitschülern gibt. Warum denn auch? Man denkt nicht darüber nach, weil es für 6jährige eigentlich nicht relevant ist. Alles fühlte sich „normal“ an. Was auch immer normal bedeuten sollte. Ich war wie jedes andere Kind auch – zumindest dachte ich das. 

Mir war zwar bewusst, dass ich die einzige Ausländerin meiner Klasse war und anders als die meisten mit zwei Sprachen groß wurde. Doch das war es dann auch. Kein Hinterfragen. Nichts. 

Zu Beginn war mein Name natürlich sofort auch für die anderen Kinder ein Zeichen dafür, dass ich definitiv nicht deutsch war. Doch unter Kindern gilt so etwas dann doch als cool. Mein Sitznachbar meinte an unserem ersten Schultag, mein Name würde so klingen, als wäre ich in der Crew von Star Trek. Ich lachte verwirrt und fragte ihn, was dieses Star Trek denn überhaupt sei. Nach seiner Erklärung fand ich seine Aussage zwar immer noch sehr amüsant, fragte mich jedoch gleichzeitig: „Denken die anderen Kinder wohl auch zuerst an einen Alien, wenn sie meinen Namen zum ersten Mal hören?“. 

Das nächste Erlebnis, welches mich damals dann doch gewiss werden ließ, war die Rückreise aus der Türkei. Vermutlich ging ich in die vierte Klasse. Meine Mutter musste sich von mir und meinem Bruder im Flugzeug eine Rede darüber anhören, wie unfair es doch sei, dass wir unsere Lieblingscousinen und -cousins nur einmal im Jahr sehen konnten. Ich realisierte: Okay, ich glaube so wird das Ganze auch nächstes Jahr ablaufen. Und das kommende Jahr, das Jahr darauf…einfach immer. Jedoch verflogen Momente wie diese auch ganz schnell wieder und die kleine dramatische Szene im Flugzeug war vergessen. Kinder eben.

Wochen später redeten alle von einem rassistischen Vorfall an unserer Schule. Es ging um ausländerfeindliche Kommentare einer Lehrerin. Angeblich waren diese an einen Schüler gerichtet. Warum ich mich noch daran erinnere? Zuhause machten sich meine Eltern nach diesem Vorfall Sorgen um mich, meine Noten und mein Empfehlungsschreiben. Damals gab es noch die Empfehlung von der Schule, ob das Kind wohl eher auf eine Hauptschule, Realschule oder ein Gymnasium gehen sollte. Während sich meine Eltern also mit meiner Klassenlehrerin über dieses Thema austauschten, fragte ich mich nur, warum und wie meine Herkunft denn überhaupt in Hinblick auf meine Leistungen eine Rolle spielen konnte.  

Als 18-Jährige blicke ich auf Momente wie diese stets mit einem Lächeln im Gesicht zurück. Ja, ich war manchmal auch rassistischen Bemerkungen von Mitschülern und ausgrenzenden Gesten von Lehrern ausgesetzt. Doch diese einmaligen Vorfälle verblassen wieder schnell, wenn ich an meine gesamte Grundschulzeit denke. Es gab immer jemanden, der mich wissen ließ und mir das Gefühl gab, dass ich hierhin gehöre – nach Deutschland. Mir wurde stets beigebracht, dass meine türkischen Wurzeln niemals so etwas wie einen Nachteil für mich darstellen dürften. Alles andere wäre nicht fair, nicht richtig.  

Der Sommer 2021  

Ein Tag noch bis zur Abreise. Koffer? Leider nur halbgepackt. Beim Raussuchen der fehlenden Sachen fällt mir auf, dass ich zuletzt 2018 in meiner zweiten Heimat war. „Schon drei Jahre her?!“ Erstaunt und auch ein wenig enttäuscht, suche ich die Kofferwaage. Bis zum Jahr 2018 waren meine Familie und ich jedes Jahr für drei oder vier Wochen in der Türkei. Die Sommerferien gestalteten sich daher jedes Mal für meinen Bruder und mich als DAS große Highlight. Unseren Eltern war es schon immer wichtig, uns an so viele Orte wie nur möglich zu bringen. Sie pflegten immer zu sagen, dass wir am meisten über das Land unserer Großeltern lernen könnten, indem wir es bereisten. Tatsächlich: Kein Türkei-Urlaub hat dem davor oder dem danach geähnelt. Selbstverständlich ging es jedes Mal zuerst zu meiner Oma und der Familie meines Vaters, doch die Orte an die wir danach fuhren, waren unterschiedlich. Angefangen von der ägäischen Küste und ihren Inseln bis hin zur Südküste, der sogenannten Riviera. Auch am Schwarzen Meer waren wir das eine Jahr. „Ist hier ja überall so schön grün wie im Harz. Herrlich“, so schwärmte mein Vater über die Landschaft dort. Man kann also sagen, ich bin mit fast der gesamten Küstenlandschaft der Türkei vertraut. Hinzu kommt Anatolien, also das Innenland. 2014 reisten wir nach Kappadokien. Genau, die Berglandschaft mit den vielen Heißluftballons, die du sicherlich mal an den Wänden eines Dönerladens gesehen hast. Ebenso kann ich mich an Istanbul und die Hauptstadt Ankara erinnern. Die Türkei hat, geografisch sowie kulturell betrachtet, so unglaublich viel zu bieten, dass ich oft den Überblick verliere.  

Am Flughafen angekommen, nehme ich dieses Kribbeln in meinem Bauch war. Dieses Gefühl hatte ich schon wirklich lange nicht mehr. Dasselbe fühlte ich früher bei der Abreise, bei dem Abschied von der einen Familienhälfte gemixt mit der Vorfreude auf Deutschland. Nur, dass es jetzt eben die Vorfreude auf die Türkei war. Ich ertappe mich bei dem Gedanken: „Oh nein, Jale…dein Türkisch hört sich doch mittlerweile sicherlich grauenvoll an. Meine armen Verwandten, die sich das jetzt antun dürfen.“ Das Sprechen und Schreiben beherrsche ich gewiss, doch zu Hause könnte ich sicherlich auch öfter türkisch reden. Manchmal habe ich Angst, ich könnte die türkische Sprache verlernen. Wie bitteschön sollte ich denn jemals meine Muttersprache vergessen? Worüber ich mir auf dem Weg zum Gate den Kopf noch viel mehr zerbrach, war die Frage, wie es wohl meiner Familie geht. Meine zwei jüngeren Cousinen sind bestimmt schon groß geworden. Oh Gott, auf einmal hörte ich mich an wie die Erwachsenen. In ihren Gesprächen darüber, wie schnell die Zeit renne. Nach drei Stunden erkenne ich die typischen Tower aus dem kleinen Flugzeugfenster. Die Bauten der Stadt, aus der mein Vater stammt. Das Meer reflektiert das helle Sonnenlicht so stark, dass ich mich zu meiner Rechten drehe. Mit großen Augen schaue ich meine Mutter an. „Alles in Ordnung?“ „Oma’s Essen!“, antworte ich. Mein Blick ist erneut auf das strahlend blaue Meer gerichtet. „Endlich da. Endlich wieder in Izmir“, denke ich. 

Auch wenn ich noch nicht so viele Orte auf der Welt gesehen habe, kann ich mit großer Sicherheit sagen, dass Izmir für immer einer meiner Lieblingsorte sein wird. Ich verbinde so unglaublich vieles mit dieser Stadt, dass ich fest der Überzeugung bin, Wörter und Satzzeichen könnten dem nie gerecht werden.  

Vor der Einfahrt stehend, blicke ich an dem türkisblauen Tor vorbei, sodass ich bis in den Garten hineinsehen kann. Der Ort, an dem der Sommer so richtig beginnt. Oder überhaupt erst beginnt? Stell dir vor, du stehst inmitten hunderter wunderschön gepflegter Blumen. Die Blüten glänzen. Wenn die Sonnenstrahlen einmal drauftreffen, werden deine Augen Zeugen der sattesten Farben überhaupt. Es ist, als würde man durch das gesamte Farbspektrum laufen und sich mit jedem Schritt in diesen Erdfleck verlieben. Der Geruch des Zitronenbaumes ist so intensiv, dass man sofort die Lust auf ein großes, frisches Glas Limonade verspürt.  

Abgesehen von der Schönheit dieses Ortes, spielt der Fleiß meiner Großmutter eine wichtige Rolle. Ohne all die Mühe und Sorgfalt, die sie diesen Pflanzen schenkt, würde es hier nicht so himmlisch aussehen. Gerade bei dieser Hitze benötigen sie ganze Eimer voller Wasser. Die vielen Stunden an Arbeit, die hier reinfließen, machen es so besonders. Meine Mutter bezeichnet das Anwesen meiner Oma auch gern als „ein Stück vom Paradies“. Aussagen wie diese zaubern ihr natürlich ein süßes Lächeln auf das Gesicht. „Mein kleines Hobby eben“, entgegnet sie ganz bescheiden. 

Im Haus angekommen nehme ich den bunten Wandabschnitt wahr. Bilder von meinen Cousinen, meinem Bruder und mir. Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwindet, als ich darüber nachdenke, wie sehr sie uns wohl vermisst haben muss. Jedes Mal, wenn ich versuche, mich in ihre Lage zu versetzen, kann ich es nicht. Nur zu einem gewissen Grad. Zum Beispiel weiß ich ganz genau, dass sie die meiste Zeit hier draußen verbringt. Sie und all die Pflanzen – ein eingespieltes Team. Eine Art Zweisamkeit, die ihr hilft, einiges zu verdrängen.  Kann man so ganz allein die Gedanken denn wirklich ausschalten? Oder Bestimmtes verdrängen? Wahrscheinlich nicht, aber der Fokus lässt sich sicherlich verschieben. Immerhin hat sie drei Söhne aufgezogen und kaum ist die Sommerpause vorbei, so kehren sie jeweils mit ihren eigenen, kleinen Familien zurück. „Schon traurig. Der Pandemie geschuldet, wird sie meine Cousinen auch nicht so viel öfter sehen können als mich oder meinen Bruder“, denke ich. Natürlich hat sie auch einige Freundinnen und Nachbarn, mit denen sie regelmäßig in Kontakt steht, doch die tiefreichende Sehnsucht nach uns spiegelt sich in ihren kleinen Augen wider. 

Man sagt ja sogar, die Liebe zum Enkelkind sei noch stärker als die zum eigenen Kind. Wenn ich meine Oma als Beispiel nehmen würde, würde sie diese These sicherlich bestätigen. „Also seitdem ihr auf der Welt seid, sind eure Väter halb so relevant.“ Solche witzig gemeinten Sätze sind keine Seltenheit, wenn sie einmal mit meinen zwei Cousinen und mir zusammensitzt.  

Immer wenn wir uns in dieser kleinen Runde befinden, wird viel getuschelt. Sude, die ein Jahr jünger ist als ich, spricht an, dass wir ja so viel aufzuholen hätten und uns dafür viel zu wenig Zeit zur Verfügung stehe. Nickend sehe ich sie an. Wir drei wissen sofort, was in den Köpfen der anderen vorgeht. Mit einem stolzen Blick sehe ich sie und Nehir an. Noch einmal wird mir klar, dass wir uns auf wundersame Weise immer auf Anhieb so gut verstehen, als würden wir uns jeden Tag sehen. Auch wenn wir uns verabschieden, steht fest: Das nächste Mal geht es genau dort weiter, wo wir aufgehört haben.      

So geht es am nächsten Tag an das Meer. Eine unserer vielen kleinen Traditionen. Handtücher, Sonnencreme und natürlich die Masken werden blitzschnell nach dem Frühstück eingepackt. Man könnte meinen, wir hätten es sehr eilig. Ja, natürlich hatten wir das. Schließlich hatten wir nur drei Wochen, um drei ganze Jahre aufzuholen. Der Zeitdruck ist an der Stelle dann doch legitim. Jeder mit seinem Lieblingsbuch in der Hand verlassen wir die Wohnung meiner Tante. Izmir: Eine Stadt, Millionen Gesichter und dazu ein lauter Morgenverkehr. Gerade erst neun Uhr und meine Wetterapp zeigt bereits 27 °C an. Erstmal wird vor einem Supermarkt angehalten. Snacks und viel Wasser sind nicht zu unterschätzen, wenn ein Tag am Strand auf dem Plan steht. Wir drei Mädels stürmen also den Eingang und suchen das Abteil für Erfrischungsgetränke. Jede Minute zählt, so das Motto. Die Handtücher sind platziert, die Taschen ausgepackt. Zuerst wird genascht und geredet. Nach einigen Stunden im Wasser, entscheiden wir uns dazu, den Tag doch noch etwas ruhiger ausklingen zu lassen. Die Menschen, die nachmittags noch am Strand waren, sind mittlerweile weg. Die Musik, bemerke ich, hatte sich anscheinend während wir Minifischen hinterher schwammen, von lautem Pop und Hip/Hop in ruhigen Jazz verwandelt.  

Den Sonnenuntergang bewundernd, liegen wir nun dort. „Jale.“ Ja?“ Nehir reicht mir ihr Buch über. „Liest du uns was vor? Ich habe dein Stimme vermisst.“ Kurz innehaltend und auch ein wenig schockiert von ihrer puren Ehrlichkeit, schlage ich das Buch auf. „Na klar.“ Nach zwei Seiten, heißt es, mein Akzent wäre kaum mehr herauszuhören. „Wirklich?“, hake ich nach. „Ja, ja.“ Also entweder hatte ich es tatsächlich geschafft oder aber es sollte ein Trick sein, mich noch weiterlesen zu lassen. Naja, beides wäre okay.  

Zwei Fremde setzen sich hinter uns. Wir schauen zu ihnen hinüber. Ein Mädchen und ein Junge, so zwischen 16 und 18, schätze ich. Nach einigen Minuten beginnen wir uns zu unterhalten. Es geht um den Fahrradstore nebenan, die Sommerferien und die besten Tauchgegenden hier in der Nähe. Das sehr aufgeschlossene Mädchen fragt nach einer Stunde, ob wir aus Izmir kämen. „Jup.“, antworten wir. „Perfekt, dann können wir uns ja auch mal absprechen und spontan treffen.“, lächelt sie mich an. Ich sage nichts als ich merke, dass ich spätestens jetzt kein relevanter Teil mehr dieser Konversation bin. Die Ferien in der Türkei gehen aufgrund der warmen Temperaturen drei Monate. Sicherlich würde ich entweder im Flieger sitzen oder in Deutschland schon längst wieder in die Schule gehen, wenn sie sich verabredeten. Während die vier Nummern austauschen, nehme ich den verwunderten Blick der beiden Geschwister wahr. Alles klar, Zeit für eine Erklärung. Typisch. Here we go. Obwohl ich es inzwischen ja wirklich gewöhnt sein sollte, fühle ich mich immer wieder unwohl. Man zieht sich automatisch zurück, auch wenn die anderen das natürlich nicht beabsichtigten. „Also tatsächlich komme ich aus Deutschland. Bin also nur für ein paar Wochen hier.“, erkläre ich ihnen. Verständnisvoll und vielleicht mit einem Hauch von Mitleid, entgegnet das Geschwisterpaar: „Achso ist das. Na cool. Aber in die WhatsApp-Gruppe kannst du ja trotzdem.“ 

Stimmt eigentlich. Warum auch immer fällt bei solchen Interaktionen meine Schranke im Kopf sofort zu. Ich komme aus Deutschland, denke ich. Die Türkei ist doch auch für mich nur eine Ferien-Idylle. Hier Freunde zu finden und diese Beziehung dann auch noch zu pflegen, stelle ich mir unnötig stressig und deprimierend vor. Man würde sich, wenn überhaupt, einmal schreiben und dann nie wieder etwas voneinander hören.  Oder vielleicht ist es das ja auch gar nicht. Könnte es vielleicht auch daran liegen, dass ich mich nicht wirklich bereit dafür fühle? Bereit, um auch türkische Freunde aus der Türkei, Teil meines Lebens werden zu lassen, weil ich das Gefühl habe, dann doch nicht ganz hierher zu gehören. Wenn ich hier bin, dann für eine nur recht kurze Zeit, aber doch mal ehrlich. Dieses Land ist nicht nur eine Art „Idylle“ für mich. Es bedeutet Familie, Herkunft, Kindheit und noch so unfassbar vieles mehr. Warum aber distanziere ich mich dann von Gleichaltrigen, die vielleicht wirklich gern den Kontakt zu mir hätten?  

Interessant, finde ich auch, dass ich jetzt schon wieder an die Abreise denke. An meinem vierten Tag hier. Gedanklich scheine ich also die ganze Zeit irgendwo in den Lüften zu sein.  

Mag sein, dass ich tatsächlich nur in den Momenten abschalten und die Zeit in Izmir genießen kann, wenn ich meiner Oma dabei zusehe, wie sie eine Kaktusfrucht aufschneidet und davon schwärmt, wie gern sie diese doch in letzter Zeit esse. Oder jene Momente, wenn ich abends allein auf der Terrasse stehe, all die Lichter von oben bewundere. Das Geräusch von Schiffen wahrnehme, die gerade an– oder abfahren und mich frage, wie das Leben hier für all die Einheimischen aussehen muss.  

Sehnsucht beruht auf Gegenseitigkeit

Das Ende jedes Sommers. Blicke, Umarmungen, Tränen und Gelächter. Sie alle sagen eigentlich dasselbe aus. Niemand von uns will so richtig gehen. Sogar meinem Bruder, der meint, Abschiede würden ihm nicht so viel ausmachen, ist die bedrückte Stimmung in das Gesicht geschrieben. Niemand von meiner Familie in der Türkei will akzeptieren, dass es für uns schon zum Flughafen geht.  

Als mein Onkel mich ganz fest umarmt, fragt er meine Eltern, ob mein Bruder und ich nicht einfach dort bleiben könnte. Er versucht es aber auch jedes Mal mit derselben Nummer, stelle ich grinsend fest. Wir alle spaßen herum und erhoffen uns, die bittere Grundstimmung könnte so etwas aufgelockert werden. Doch wem macht man etwas vor? Dieses mulmige, unwohle Bauchgefühl sollte uns alle noch eine Weile begleiten. Mich genauso wie meine Cousinen. Meinen Vater genauso wie seine Brüder. Irgendwie verdammt unfair. Denn meine Oma würde von allen am meisten darunter leiden. Sehnsucht beruht eben auch auf Gegenseitigkeit, begreife ich auf dem Weg zum Auto. „Passt gut auf, okay?“ „Ihr auch, bis dann.“ „Wir haben euch ganz dolle lieb!“, rufen uns Sude und Nehir zu. Wir fahren los. Ich sehe, wie sich meine Oma leicht nach vorne beugt. Sie kippt uns ein Glas Wasser hinterher. Hierbei handelt es sich um eine alte Tradition, die sinngemäß so viel heißt wie: „Möge dein Weg der des Wassers sein.“ Nämlich leicht und ohne Hindernisse.  

Im Flugzeug sitzend, denke ich an Zuhause. Deutschland habe ich ganz schön vermisst. Bei dem Gedanken an unser Haus wird mir im kalten Sitz dann schnell wieder wärmer. In meinem Kopf schweife ich erneut ab. Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, denen es genauso geht wie mir, wird oftmals das Gefühl gegeben, sich entscheiden zu müssen. Entweder A oder B? Man kann ja nicht beides haben. Entweder das eine Land oder das andere. Doch ich persönlich werde mich nie nur für eine Seite entscheiden können. Das möchte ich auch nicht. Meiner Meinung nach kann man sehr wohl beides „haben“. Es kommt darauf an, was man aus dieser Vielfalt macht. Zwei Kulturen. Zwei Welten. Du kannst dich an beide Welten anpassen und für dich neu definieren. Dinge dazulernen. In beiden Ländern zu Hause sowie fremd fühlen. Doch nach einer gewissen Zeit findet man ein Gleichgewicht, für welches es sich lohnt, daran festzuhalten.  

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