„Wir surfen mit allen Kräften auf hoher See“
Von mentaler Gesundheit bis hin zu gesellschaftsstrukturellen Veränderungen. Passiert ist dieses Jahr sehr viel, doch wie genau wirkt sich das auf uns aus? Dieser Frage geht die Psychiaterin Frau Dr. Franck im Interview mit Jale Sezen genauer auf den Grund.
Welche Auswirkungen hat die aktuelle Lage auf unsere mentale Gesundheit?
Für die Menschen, die nicht viel Spielraum haben und Ideen entwickeln können, wird diese Pandemie natürlich zu einer enormen Belastungsprobe. Denn ist man von vielen Dingen abhängig, mit denen man sich in Folge der Pandemie nicht befassen kann, dann stellt dies erstmal einen riesigen Verlust dar. Ganz anders ergeht es jedoch denjenigen, die sich selbst beschäftigen können und Ideen entwickeln, wie sie ihren Alltag bestmöglich gestalten und strukturieren können, damit sie weniger Schwierigkeiten haben. Der Verlust an Möglichkeiten ruft eine gewisse Beeinträchtigung hervor und zwar bei uns allen.
In Krisensituationen muss sich der Mensch immer wieder an die neuen Lebensumstände anpassen. Was für vorstellbare Langzeitfolgen hat diese Art der Krisenbewältigung für uns als Gesellschaft?
Es wird sehr viel Geld kosten, das irgendwann zu bezahlen ist. Wir können sicher davon ausgehen, dass die Schulden, die wir heute machen, von den Generationen von morgen bezahlt werden müssen. Die vielen Verordnungen betrachte ich mit einer gewissen Skepsis. Ich bin mir nicht sicher, ob diese nicht Raum dafür bieten, mehr Kontrolle auszuüben, und damit die demokratischen Grundwerte nicht in Frage gestellt werden. Ich sehe langfristig, wenn wir jetzt gerade die Entwicklungen, zum Beispiel in Altenheimen vor Augen haben oder ich sehe es auch in Kinderheimeinrichtungen, dass der Bereich der Bereitschaft zu helfen sinkt. Da habe ich Sorge. In den Altenheimen ist leider kaum noch jemand da, der sich um die Älteren kümmert. Wir haben einen hohen Anteil an Singles, einzeln lebenden Menschen. Ich glaube, langfristig könnte es sogar so sein, dass sie auf das Alleinwohnen verzichten und wieder mehr mit anderen zusammenziehen. Keinesfalls denke ich aber, dass die Pandemie uns so unglücklich macht. Das ist nicht der Fall. Es sind andere Bedingungen, auf die wir in irgendeiner Form reagieren werden. Wir werden neue Lösungen entwickeln und sicher wird sich der Anspruch an unser Freizeitverhalten verändern.
Der Mensch ist hochanpassungsfähig.
Wie genau wirkt sich die ständige Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft auf unsere Denk- und Verhaltensweisen aus?
Ich denke, dass was wir nie an uns heranlassen ist, dass die Zukunft ungewiss ist und dass es morgen anders sein kann, weil das würde unser Lebenskonzept auch deutlich in Frage stellen. Wir leben als würde es ewig so weiter gehen. Das ist die Grundannahme.
Welche Personengruppen leiden am meisten an den Ausmaßen der Corona-Pandemie?
Hat man ausreichend Arbeit, Bildung und Menschen, mit denen man sich gut versteht, um sich; dann kann man viel bewältigen.
Ich glaube durchaus, dass es Menschen gibt, die nicht in dieser Situation sind und die in äußerst prekäre Situationen rutschen. Falls sie ihre Arbeit verlieren, macht das ganz viel mit den Menschen. Man könnte fast sagen, dass es eine soziale Verelendung fördert. Die Menschen werden entwertet. Folglich verliert man Anerkennung und Status, worüber man durchaus unglücklich werden kann.
Ist unsere Gesellschaft denn in der Lage, die von Ihnen angesprochene „soziale Verelendung“ nach Covid-19 einigermaßen rückgängig zu machen?
Ich denke nicht, dass diese Verelendung einfach zu revidieren ist. Weiterbildung benötigt bestimmte Lebensverhältnisse, sonst wird es mühsam. Was wir uns definitiv erhalten sollten ist die Möglichkeit auf Jugendhilfe.
Inwiefern verarbeiten Jugendliche die Ereignisse aus diesem Jahr anders als die Erwachsenen?
Es gibt Jugendliche, die es gar nicht ernst nehmen sowie auch viele, die es wahnsinnig ernst nehmen. Was ich aber durchgehend erlebe, ist, dass sie oft gar nicht so viel Angst haben wie Erwachsene und dass es die Anmutung einer akzeptierten Lebensbedingung macht. Die Jugendlichen werden nicht in die Kurzarbeit geschickt werden, und sind nicht für die Ernährung einer Familie verantwortlich. Sie müssen nicht die Hauskreditraten oder die Miete bezahlen. Da nimmt man alles entspannter, das ist aber auch eine Chance.
Wie kann es uns gelingen, uns bestmöglich auf einen zweiten Lockdown vorzubereiten? Auf welche Erfahrungen aus dem Frühjahr können wir uns stützen?
Für mich persönlich habe ich mitgenommen, dass ich meinen Tag gut strukturieren und relativ diszipliniert leben muss. Allgemein ist es immer vorteilhafter tätig zu bleiben. Die Hamsterkäufe waren ein Ausdruck einer Schreckreaktion. Diese Reaktion hat deutlich gemacht hat, dass wir von Handelsketten abhängig sind und die Lebensmittel, die wir konsumieren, nicht selbst herstellen können. Meiner Meinung nach, müsste dieses Bewusstsein geschärft werden. Letztendlich versuchen wir mit allen Kräften auf hoher See zu surfen.
Sollte wieder ein Lockdown eintreten, was für Tipps können Sie dann Schülern und Eltern mitgeben?
Der entscheidende Punkt ist, ist, dass die Menschen selbst verstehen, dass sie es sind, die ihr Leben leben, dass sie es tun müssen und dass ihnen das kein anderer abnimmt. Ich denke, gerade bei Kindern und Jugendlichen ist es so, dass sie hier trotz aller schwierigen Voraussetzungen sehr viele Möglichkeiten haben, die sie nutzen können. Schüler sind sich bewusst, dass sie nun wesentlich mehr Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und aktiver werden müssen. Für euch Schüler ist es eine riesen Chance, selbstständiger zu werden. Indem ihr euch eine klare Struktur setzt, beweist ihr, dass ihr unabhängiger werdet.
Dennoch benötigen Kinder natürlich weiterhin Unterstützung. Für die Eltern ist es wichtig, dass man konfliktfähiger wird und sich auseinandersetzt und sich nicht frustriert in die Ecke zurückzieht. Wenn man jetzt nicht auf den Sportplatz gehen kann, dann geht man halt zusammen als Familie in den Wald oder betätigt sich anderweitig.
Zur Person: Doktor Eva-Maria Franck ist Chefärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im Ameos-Klinikum Hildesheim.
Text: Jale S. (Interview geführt am 18.11.2020), Bild: Linus Nylund, Unsplash