2030, oder die Zeit der Pandemie

von Pia Ströhlein

Meine Mutter hat mich gebeten, nach der Uni in den Supermarkt zu gehen, um noch schnell ein paar Sachen zu besorgen. Auf dem Einkaufszettel stehen nur drei Dinge: Klopapier, Nudeln und Desinfektionsmittel. Diese Kombination erinnert mich an die Situation von vor zehn Jahren. Die Zeit der Corona-Pandemie. Alle Kindergärten und Schulen waren damals geschlossen und Veranstaltungen abgesagt worden, es galt ein Kontaktverbot. Menschen desinfizierten sich ständig die Hände und hamsterten alles. Wochenlang hatte man  Klopapier, Nudeln und Desinfektionsmittel nicht mehr kaufen können.

Ich erinnere mich noch genau an die Zeit. Insgesamt fünf Wochen waren wir damals mehr oder weniger in unseren Wohnungen eingesperrt gewesen. Die ersten zwei Wochen liefen super, doch irgendwann Mitte der dritten Woche fing die Stimmung an zu kippen. Mir war langweilig und meine Gemütsverfassung wurde immer schlechter. Ein Tag ist mir besonders in Erinnerung geblieben. An diesem Tag erreichte meine schlechte Stimmung ihren Höhepunkt.

Es fing schon morgens an, als ich mit denkbar schlechter Laune beim Frühstück erschien. Ich hatte in der Nacht ziemlich wenig geschlafen und war dementsprechend müde und unausgeglichen, außerdem hatte ich mordsmäßige Kopfschmerzen. Sobald ich in die Küche kam, hörte ich wie die anderen sich laut und fröhlich unterhielten. „Könnt ihr bitte leise sein, ich hab Kopfschmerzen“, bat ich.

„Dir auch einen guten Morgen“, schrie meine Mutter, naja ich hatte das Gefühl, dass sie schrie, wahrscheinlich redete sie ganz normal. „Jaja, guten Morgen, ihr alle“, murmelte ich. Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich etwas essen und mich dann für den Rest des Tages in mein Zimmer verkrümeln. Heute war die Devise, so wenig Gesellschaft wie nur irgend möglich. Nur leider wurde mein Plan noch in der nächsten Sekunde zunichte gemacht. „Heute machen wir einen Familientag“, meinte mein Vater.

„Muss das sein? Ich hab keine Lust, mir geht es echt nicht gut“, murrte ich.

„Ja, es muss sein. Benimm dich und hör auf zu meckern“, antwortete meine Mutter, „Aber als allererstes geht dein Vater einkaufen und wenn er wieder da ist, helft ihr alle mit beim Kochen. Nach dem Essen spielen wir alle etwas zusammen.“ Ich stöhnte innerlich auf, sowas konnte ich heute echt nicht gebrauchen, aber da musste ich wohl durch. Während mein Vater einkaufen war, hockte ich in meinem Zimmer und versuchte mich mental, so gut es ging, auf den Tag vorzubereiten.

Als mein Vater wieder da war, berichtete er davon, dass er beim Rewe um die Ecke gesehen hatte, wie einige Leute vermummt, das heißt mit Mundschutz, unterwegs gewesen waren. Er fand das ein bisschen gruselig. Dennoch hatte sich die Fahrt gelohnt, da er Klopapier im Gepäck hatte. Das war Grund genug für eine regelrechte Party, denn Klopapier war damals eine echte Rarität..

Dann begannen wir zu kochen. Die Stimmung war von Anfang an sehr angespannt. Weder ich noch meine Geschwister wollten das hier. Wir stritten die ganze Zeit. Keiner von uns wollte mithelfen oder womöglich mehr als die anderen machen müssen. Als Mama sagte, dass einer von uns die Soße machen solle, diskutierten wir solange, bis meine Mutter die Nerven verlor, uns anmeckerte und es schließlich einfach selbst machte. So lief es noch ein paar mal, bis mein Vater sich einmischte und uns sagte, wir sollten uns endlich zusammenreißen, sonst würden Konsequenzen folgen, die uns nicht gefallen würden. Danach benahmen wir uns besser, aber die Stimmung war trotzdem schlecht. Ich sagte zwar nichts Feindseliges mehr und half fleißig mit, unter der Oberfläche brodelte es jedoch nur so vor unterdrückter Wut. Auch während des Essens und des Spielens lief es nicht besser. Wir alle waren schweigsam, darauf bedacht, nichts zu sagen, was unsere Eltern verärgern könnte. So gegen 15:00 Uhr waren wir fertig und damit endlich entlassen. Ich lief, so schnell ich konnte, in mein Zimmer, warf die Tür hinter mir zu und schloss ab. Ich wollte für de Rest des Tages niemanden mehr sehen oder zumindest nicht bis zum Abendessen. Ich brauchte Zeit für mich, um in Ruhe nachzudenken. Mir war zwar langweilig, ich wollte aber absolut keine Gesellschaft, also legte ich mich einfach auf mein Sofa, lauschte der Musik und existierte. Bis zum Abendessen.

Um 19:00 Uhr war es soweit, ich musste wieder unter Menschen. Ich hatte den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer verbracht und hoffte, dass ich mich soweit erholt hatte, um das Abendessen ohne Zwischenfall zu überstehen. Dieser fromme Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen.

Wir waren gerade dabei,  zu Abend zu essen. Mein Bruder laberte mal wieder von irgendeinem Computerzeugs und ich weiß nicht wieso, aber es nervte mich so dermaßen, ich war kurz davor zu platzen. Das einzige was ich verstand war: „PC … kaputt … inakzeptabel … haufen Idioten … WLAN.“ Ich wollte eigentlich nur in Ruhe nachdenken und er störte mich massiv dabei. „Kannst du nicht endlich deinen Mund halten, das interessiert doch keinen!“, brüllte ich. Mir war endgültig die Hutschnur gerissen. Meine Laune war sowieso schon extrem schlecht, doch das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich hatte es einfach nicht mehr aushalten können. „Das war jetzt echt unnötig und total unhöflich“, war der Kommentar meiner Schwester. Ich hasste es, wenn sich andere Leute einmischten, besonders kleine Schwestern, die alles besser wussten und vernünftig taten. Natürlich konnten sich meine Eltern ebenfalls nicht zurückhalten. „Entschuldige dich bitte bei deinem Bruder, es geht gar nicht, beim Essen so zu schreien“, meinte meine Mutter. „Genau, das zeugt von ganz schlechtem Benehmen. Das war unangemessen“, ergänzte mein Vater.

„Wieso seid ihr jetzt alle gegen mich? Das ist so unfair. Ich halt das hier nicht mehr aus“, brüllte ich und stürmte aus dem Esszimmer. Ich war so wütend. Das war echt nicht fair. Ich war frustriert. Inzwischen war ich in meinem Zimmer angekommen und wie jedesmal, wenn ich wütend war oder nachdenken wollte, setzte ich mich in meinen Lesesessel und schaute aus dem Fenster. Wie sollte ich nur die nächsten zwei Wochen aushalten? Die Nerven lagen doch jetzt schon blank. Ich hatte alles, was mir einfiel, was ich tun könnte, schon getan. Alles geguckt, was man gucken konnte. Ich wusste einfach nicht, was ich noch machen sollte.

Aber solche Ausraster wie eben sollte ich trotzdem möglichst vermeiden, denn wenn ich es mir jetzt schon mit meiner Familie verscherzte, wäre das nicht so gut. Ich würde nämlich noch mindestens zwei Wochen mit ihnen aushalten müssen. Mal nachdenken, was hatte ich noch nicht gemacht und was wollte ich schon immer mal tun? Sport? Unrealistisch. Malen? Durch fehlendes Talent zu frustrierend. Schreiben? Schon besser, aber ich hatte noch nie eine Geschichte vollendet und setzte mir immer zu hohe Ziele.  Aber daran konnte ich ja arbeiten. Diese Idee gefiel mir.

Da das jetzt geklärt war, musste ich mich nur noch so weit beruhigen, dass ich mich bei meiner Familie entschuldigen konnte. Denn wenn ich ihnen sofort gegenübertreten würde, würde ich mich bei der ersten Nachfrage angegriffen fühlen und wieder laut werden. Also gab es jetzt nur eins, was ich tun konnte. Musik an, in den Sessel setzen, der Musik lauschen und mich ganz langsam wieder beruhigen. Ungefähr eine Stunde, nachdem ich die Musik angestellt hatte, klopfte es an meiner Tür. Es war meine Mutter, die über den Vorfall reden wollte. Ich machte die Tür auf und wir redeten darüber, was passiert war, warum es passiert war und wie ich es das nächste mal verhindern konnte. Ich erzählte ihr, dass meine Nerven blank lagen, mir langweilig war und ich beschlossen hatte, anzufangen zu schreiben, um die Langeweile zu verhindern. Danach ging ich mit ihr wieder in die Küche, um zu Ende zu essen. Ich freute mich schon auf den nächsten Tag, dass ich mich an den Schreibtisch setzen und endlich eine Geschichte zu Ende schreiben würde. Denn Zeit hatte ich wahrlich genug.

All das kommt mir in den Sinn, als ich dort im Supermarkt stehe und auf den Einkaufszettel blicke. Damals war es echt eine verrückte Zeit gewesen, aber zum Glück haben wir die mehr oder weniger Gut überstanden. Ich frag mich nur, wofür meine Mutter ausgerechnet diese drei Sachen benötigt.

Text: Pia Ströhlein; Bild: Pixabay (2020)