Seelenblick – eine Kurzgeschichte (Part 2)

„Möge dieser Prozess und ein mögliches Urteil Gerechtigkeit nach Riddle bringen. Möge dieser Prozess den unfairen Mord an Mrs. Johnson ein Stück weit gerechter machen.“ Für einige Sekunden herrscht Totenstille, dann lässt der Richter sich mit einem Rascheln seines Umhangs zurück auf den Stuhl sinken.

Langsam erhebe ich mich. „Hohes Gericht. Mr. Anwalt, Sir“, beginne ich mit betont ruhiger Stimme und nicke nacheinander in die Richtung des Richters und schließlich zum Verteidiger des Mordopfers. „Im Namen meiner Mandantin weise ich jegliche Schuldvorwürfe zum Raubüberfall und Mord an Mrs. Dabria Johnson zurück. Mrs. Callum befand sich sich sowohl zur Zeit des Geschehens, als auch in den folgenden Stunden in ihrem Wohnhaus in Riddle. Sie steht in keinerlei Verhältnis zu der Ermordeten und hätte folglich kein Motiv für eine derartige Tat gehabt. Es gibt keine konkreten Hinweise auf ein Vergehen ihrerseits.“ „So? Die gibt es nicht?“ werde ich von einer schneidenden Stimme unterbrochen. „Wie sieht es denn mit dem goldenen Amulett aus, welches im Besitz von Mrs. Callum aufgefunden wurde? Die Angehörigen von Mrs Johnson sind davon überzeugt, es wäre ein Erbstück der eigenen Familie. “ Der Anwalt schenkt mir ein überhebliches Lächeln. „Mrs. Callum hat das Amulett bereits vor zwei Jahren erstanden. Es ist laut verständigen Personen kein seltenes Exemplar, Sir. Eine Verwechslung ist nicht auszuschließen“, entgegne ich. „Eine Verwechslung also? Nun, dann können Sie mir sicher den Namen der Person nennen, bei der Sie das kostbare Stück erstanden haben. Liege ich da richtig?“ Zahide wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu: „Nein, Sir“, erwidert sie mit zittriger Stimme. „Das können Sie mir nicht sagen, Mrs?“, der Anwalt wirft mir einen triumphierenden Blick zu und dreht sich in einer fließenden Bewegung zum Richter um. Mit einer einnehmenden Geste lehnt er sich in seinem Stuhl zurück. „Ganz offensichtlich kann Mrs. Callum die erdrückende Beweislage nicht wiederlegen.“ Er macht eine dramatische Pause. Ich sehe den Richter stirnrunzelnd an. Es ist unmöglich zu sagen, was er denkt. Seine eisgrauen Augen halten meinen Blick stand, erlauben es mir nicht, den Kontakt abzubrechen.

Da ist es wieder. Das Gefühl, mein Kontakt zum Boden würde schwinden. Ich verliere mich selbst in einem Gewirr aus Farben, nichts ist mehr real. Die Stimme des Anwalts dringt wie aus weiter Ferne zu mir durch. Plötzlich stehe ich inmitten von grauem Nebel auf einer Klippe. Unter mir rauscht das aufgewühlte Meer. Seine Fluten bringen alle Farben des Ozeans mit sich. Ein kühler Wind peitscht mir ins Gesicht und raubt mir kurzzeitig den Atem. Als ich wieder zu Luft komme, höre ich sie…Stimmen, kaum mehr als ein Wispern in meinem Kopf – die Bewohner von Riddle. Ihr Zischen vermischt sich mit dem Tosen der Wellen, die mit Wucht gegen die kantigen Felsvorsprünge schlagen. Ein Gefühl von eisiger Kälte ergreift mich und schickt mir kribbelnde Schauer über den Rücken. Ich fühle mich überwältigt von den Stimmen, spüre die Bedrohung, welche von ihnen ausgeht. Diese Seele ist rau und stürmisch, den Bewohnern von Riddle und ihrer Erwartungshaltung hilflos ausgesetzt. Als eine tiefe Stimme ertönt, zwinge ich mich zur Rückkehr in die Realität. Langsam nimmt meine Umgebung um mich herum wieder Form an.

„Das Gericht zieht sich zur Prüfung der vermeintlichen Beweislage zurück“, verkündet der Richter in einem ruhigen Tonfall. „Ein Urteil wird um Punkt 19 Uhr gesprochen“.

Früher Abend. Die dunkelrote Sonne steht tief am südlichen Horizont und verschwindet beinahe hinter der weiten Wüste. Noch immer ist es schwülwarm, die Hoffnung auf mildere Temperaturen bringt lediglich die nächste Nacht mit sich. Angestrahlt durch die untergehende Sonne werfen die wenigen Häuser Riddles langgezogene Schatten auf den Boden der Wüstenlandschaft. Wie auch am Morgen wirkt diese Gegend gänzlich leblos. Sogar die Veilchen, die einst in einem strahlenden Violette blühten, lassen ihre vertrockneten Blütenköpfe hängen. Die toten Blumen wirken melancholisch, fast so, als sei auch das letzte Leben inmitten dieser Wohnlandschaft erloschen.

Dass der Richter den Erwartungsdruck von Riddles Bewohnern standhält, ist unsere einzige Hoffnung. Ich stehe hinter meinem Stuhl, die Hände auf der abgerundeten Lehne positioniert…haltsuchend. Diese Geste symbolisiert Respekt gegenüber dem Richter und seinem Urteil. Alle Augen sind auf die kurze Seite des Raumes gerichtet. Ein Räuspern lässt mich aufschrecken. „Mrs. Zahide Callum, ich verurteile Sie wegen des Raubüberfalls und Mordes an Mrs. Dabria Johnson zu lebenslanger Haft“, Zahides Augen neben mir weiten sich vor Schreck. Kurz verweilt der Blick des Richters auf ihr, dann fährt er langsam fort. „Mrs. Siela McKane, auf Sie fällt durch Mithilfe und Verleugnung der Tat das selbe Urteil. Nehmen Sie beide fest“.